Die Macht eines tanggbain / teng und des Erdherrn


Bei den Interviews der 30 Erdherren von Wiaga konnte ich in den entscheidenden Informationen über Eigenschaften und Funktionen ihrer tanggbana eine weitgehende Übereinstimmung feststellen. Auch herrschte Einigkeit darüber, dass tanggbana unterschiedlich mächtig (pagrik) sind und dass von ihrer Macht auch die Position und das Ansehen der Erdherren abhängt. In dem Bemühen, Faktoren für den Grad der Macht eines tanggbain zu finden, konnte ich erst nach mehreren Irrwegen zu greifbaren Ergebnissen kommen.

Die anfängliche Vermutung, dass sich die Stärke und Bedeutung vor allem an dem Wirkungsgrad ablesen lässt, d.h. an den Gebets- bzw. Opfererhörungen oder an der Effizienz der Strafen, wurde schon früh als zweitrangig erkannt, zumal der Wirkungsgrad und das Durchsetzungsvermögen eines tanggbain im Vergleich zu anderen sich nur schwer nachweisen lassen.

Bei meinen Forschungen im Jahre 2001 ging ich grundsätzlich davon aus, dass die Stärke und Bedeutung eines tanggbain von dessen Einzugsgebiet abhängt. Kleinere tanggbana in unmittelbarer Gehöftnähe versucht der Gehöftherr eher durch gelegentliche Opfer ihres schädlichen Einflusses zu berauben, selten traut man ihnen die Hilfe in einer wichtigen Angelegenheit zu. Große tanggbana, wie z.B. das Pung-Erdheiligtum von Kanjaga oder das Fiisa-tanggbain Azagsuk in Sandema, locken hilfesuchende Opferer aus dem ganzen Bulsaland und gelegentlich sogar Aschanti aus Südghana an. Zum Opferbesuch des großen Tongo Heiligtums der Tallensi1 sollen angeblich Flugzeuge in Europa gechartert werden. Anfangs glaubte ich sogar, dass sich das ganze Bulsaland analog dem Modell der zentralen Orte von Christaller (1933) in ein rituelles Netz von Haupt- und Sub-tanggbana aufgliedern und kartographisch darstellen ließe. Auf meine Fragen an die Wiaga-Erdherren nach dem Einzugsbereich der opfernden Gruppen erhielt ich meistens die Antwort, dass diese aus dem ganzen Bulsaland kommen. Einige Erdherren verbesserten sich aber sofort, indem sie stolz feststellten, dass Bewohner Südghanas und selbst Europäer schon an ihrem tanggbain geopfert hätten.

Dieses kann jedoch nicht bedeuten, dass tanggbana nicht zu einem bestimmten Ritualbereich gehören. Während meiner Aufenthalte im Gehöft Anyenangdu Yeri in Wiaga-Badomsa, die zusammengerechnet etwa 26 Monate umfassten, konnte ich an 33 während dieser Zeit abgehaltenen Opfer an das tanggbain Pung Muning selbst teilnehmen und für 19 weitere detaillierte Informationen erhalten (Angaben in eckigen Klammern). In 23 [+19] Fällen kamen die Opfergruppen aus der eigenen Sektion Badomsa (3 dieser Donor-Gruppen waren jedoch mit Badomsa nur durch eine Frau verwandt), nur in 4 Fällen aus der fast gleich großen Nachbarsektion Kubelinsa, und bei 6 Opfern stellte ich selbst ausschließlich das Opfertier, wie man es bei meiner Ankunft, Abreise und nach einem Motorradunfall auf Wahrsageranweisung auch erwartete. Meistens schloss ich mich einem anderen Opfer an2.

Selbst innerhalb Badomsas verteilen sich die Opfergruppen ihrer Herkunft nach nicht homogen über die ganze Sektion. Die Anzahl der ausgeführten Opfer scheint mit der örtlichen und genealogischen Nähe zum Gehöft des Erdherrn zuzunehmen, denn am häufigsten opferten Personen aus Anyenangdu Yeri selbst und den mit diesem näher verwandten Nachbargehöften, aber auch solche Personengruppen, die ihre Gehöfte auf dem Land eines Vorfahren des Erdherrn gebaut hatten.

Wenn auch jeder Fremde als Donor an ein tanggbain willkommen ist, so lehnen es nach meinen Befragungen die meisten Bulsa ab, einem fremden Erdheiligtum zu opfern. Ein Informant aus Sandema-Abilyeri drückte es so aus. „Wenn man einem fremden tanggbain opfert, sieht es so aus, als ob das eigene keine Macht hätte”. Drei Ausnahmen rechtfertigen jedoch ein Opfer an das tanggbain eines anderen Ritualbezirks: (1) Der Außenstehende wohnt ganz oder zeitweise als Gast in der fremden Sektion, z.B. weil seine Mutter aus dieser Sektion stammt, (2) ein Ehemann begleitet seine Ehefrau bei einem Opfer an das tanggbain ihres Elternhauses oder (3) das Erdheiligtum wird als außergewöhnlich mächtig und effizient für bestimmte Problemfälle anerkannt. Hierzu nimmt man sogar eine Reise zu einer anderen ethnischen Gruppe in Kauf, wie z.B. zum Tongo-Heiligtum der Tallensi.

Obwohl die Größe des Einzugsbereichs eines tanggbain ohne Zweifel zu seinem Ansehen beiträgt, so ist doch die genealogische Position seines anzestralen Besitzers entscheidender für die Macht des Erdheiligtums und das Ansehen seines Betreuers, des Erdherrn. Der Besitzer des ältesten Ahnenschreins einer Lineage opfert fast immer auch dem mächtigsten tanggbain des entsprechenden Bezirks, und meistens sind die Gehöfte der Erdherren schon an der langen Reihe riesiger Ahnenschreine vor dem Eingang zu erkennen. Wenn also ein Erdherr nachweisen kann, dass der Erwerber und anzestrale Eigentümer seines tanggbain einer älteren Generation angehört oder dieser Ahne der ältere klassifikatorische „Bruder” des Eigentümers eines Nachbar-tanggbain ist, so gilt das tanggbain des ersteren als das mächtigere und dieser selbst als der angesehenere Erdherr. Der teng-nyono von Wiaga-Sinyansa-Goldem, der dem Ahnenschrein von Asinyang und dessen tanggbain opfert, erklärte mir mit großer Selbstverständlichkeit, dass sein Erdheiligtum natürlich größer sei als die der Nachbarsektionen Sinyansa-Badomsa und Sinyansa-Kubelinsa, da Asinyang (Urahne Sinyansas) der Vater von Abadoming (Badomsa) und Akubeling (Kubelinsa) war.

Nicht immer ist die genealogische Position des ersten Erwerbers eines Erdschreins so gesichert wie in dem hier aufgezeigten Fall. Im Osten Wiagas haben sich zur Zeit von Babatus Sklavenzügen (Ende des 19. Jahrhunderts) miteinander verwandte, durch die Kriege versprengte Gruppen unter den Sektionsnamen Chantiinsa, Chandonsa und Kpalinsa angesiedelt und jeweils ein eigenes tanggbain erworben. Bei Landzuweisungen an Fremde kann sich nämlich herausstellen, dass ein tanggbain eine bestimmte Stelle dieses Landes bewohnt, ohne dass es bisher als solches erkannt und beopfert wurde. Auch kann sich ein kleines tanggbain, das nur für ein Gehöft zuständig ist, zum tanggbain einer ganzen Sektion entwickeln. Über die verwandtschaftlichen Beziehungen der drei Sektionsgründer (Achantiim, Akpaan und Achanduok) erhielt ich von den drei Erdherren leicht unterschiedliche Informationen. Allen gemeinsam ist, dass sie dem eigenen Sektionsgründer die größte Seniorität und damit ihrem tanggbain die größte Macht zusprechen (s. genealogische Karte)

Die genealogische Stellung des anzestralen Erwerbers eines tanggbain ist zwar von größter Wichtigkeit zur Sanktionierung eines Erdherrenamtes, vor allem innerhalb der eigenen Sektion. Ihre Berücksichtigung hat aber aus zwei Gründen nicht zu einer hierarchischen Ordnung aller Erdherrenämter der verschiedenen Ritualbezirke eines Dorfes (z.B. Wiagas) geführt. Einmal wurden genealogische Teilstrukturen so manipuliert, dass eine Über- oder Unterordnung außerhalb der eigenen Lineage keine allgemeine Anerkennung finden konnte. Zum anderen können nur wenige Sektionen überhaupt genealogisch miteinander in Verbindung gebracht werden. Viele gehören der autochthonen Bevölkerungsschicht an (z.B. Bachinsa, Sichaasa, Kom, Zamsa), andere führen ihre Lineage auf spätere Einwanderungen zurück (z.B. Chantiinsa, Kpalinsa, Chandonsa und die Schmiedesektion Chiok). Nur vier Lineages kennen eine genealogische Verbindung zum Dorfgründer Awiag. Wenn Riehl (1993: 127) für die Tallensi eine rituell-religiöse Egalität in der Erdpriesterschaft und das Fehlen einer Hierarchie feststellt, so trifft dieses im gleichen Maße für die teng-nyam (Pl.) der Bulsa zu.

Allerdings müsste noch das Verhältnis der oft zahlreichen kleineren tanggbana zu dem vom teng-nyono beopferten teng / tanggbain innerhalb dessen Ritualbezirks untersucht werden. Da der Übergang von den unbedeutenden tanggbain-Geistern zum Haupt-tanggbain fließend ist, so muss grundsätzlich jede Kategorieneinteilung fraglich bleiben.

Zu den für Menschen unbedeutendsten tanggbana gehören die Geistwesen, die gar keine Opfer erhalten. Sie schweifen ohne ständigen Wohnsitz sowohl im Buschland wie in bewohnten Gegenden umher. Mein früherer Informant Leander Amoak nannte sie “loose tanggbana” und äußerte in der ihm eigenen Vorliebe für religiöse Konstrukte die Vermutung, dass es sich um Ahnengeister handeln könne, die wegen fehlender männlicher Nachkommenschaft keine Opfer erhalten.

Adama aus Wiaga-Chiok berichtet, dass in seiner Sektion alle Bäume, die aus Gräbern wachsen, als tanggbana gelten. Man hält diese jedoch für zu unbedeutend, um ihnen zu opfern. Ein Fällen ist allerdings nicht erlaubt.

Hirseband um einen Baobab-Baum

Unbeopferte Geistwesen gelten gemeinhin als bösartig. Zur Zeit der Hirseernte befürchten die Bulsa-Bauern, dass böse Bäume (ti-baata, Sing. ti-biok), die gewöhnlich als kleine tanggbana angesehen werden, ihre Felder unfruchtbar machen. Um ihre Gewalt einzudämmen, schlingt man aneinandergeknotete Hirsehalme um alle Bäume, die auf den beackerten Feldern stehen, da einer von ihnen möglicherweise ein “böser Baum” (ti-biok)sein könnte. Diese Hirsebänder entsprechen möglicherweise den Webstreifenbändern der beopferten kleinen Baum-tanggbana (vgl. Kröger 2001: 602f.), die allerdings mehr als Kleidung des Baums aufgefasst werden.

Erst wenn bösartige Bäume oder „lose” tanggbana in das menschliche Leben eingreifen, muss der Mensch aktiv werden. Zwei Beispiele mögen solche Fälle illustrieren. Sie sollen außerdem klarstellen, dass der Pakt zwischen Mensch und tanggbain nicht in irgendeiner grauen Urzeit stattfand, sondern jederzeit vollzogen werden kann.

Mahlstein-tanggbain mit Opferstelle (rechts)

1. Zur Zeit des Präsidenten Kwame Nkrumah wohnte ein Regierungsbeamter in Fumbisi (Süd-Bulsa). Einer seiner Diener besorgte sich zum Aufbocken des Wagens seines Herrn einen nicht mehr verwendeten alten Mahlstein, den er auf dem Kopf zum Auto trug. Dort angekommen, konnte er ihn nicht mehr von seinem Kopf entfernen, bis er ihn schließlich wieder an seinen alten Standort zurückbrachte. Ein Wahrsager fand heraus, dass der Stein von einem tanggbain bewohnt wird, das fortan regelmäßig Opfer erhält.

2. Als in den 70er Jahren eine Frau in Wiaga-Badomsa Wasser von einem Brunnen holte, redete ein fremdes Kind sie an und bat um einen Trunk. Sie wies es schroff zurück. Im Gehöft angekommen, hatte die Frau einen Anfall, schrie, tanzte und entkleidete sich völlig. In geistiger Verwirrung, die noch einige Monate anhielt, nannte sie den Namen Apaata tuik (tuik, ‘Baobab’). Ein Wahrsager fand schließlich heraus, dass das kleine Kind die Verkörperung eines in Gehöftnähe stehenden, als solches noch nicht erkannten tuik-tanggbain war3. Seitdem opfert ihm regel

Opferstelle des Apaata tuik

mäßig ein kleines Kind des Gehöfts. Die Zubereitung der Opfergaben (Wasser holen, Mahlen, Brauen usw.) muss die inzwischen geheilte Frau ausführen. Bei Unterlassung der Opfer kann der ‘böse Baum’ (ti-biak) Unfruchtbarkeit, Feuer oder Unkrautplagen in den Feldern verursachen.

Die Alternative zur Beopferung eines als tanggbain erkannten ‘bösen Baumes’ ist seine vollständige Vernichtung, wobei selbst die Wurzeln ausgegraben werden müssen. Bei diesem lebensgefährlichen Unterfangen muss der Eigentümer jedoch im Besitz einer bestimmten, starken Medizin sein.

Während die kleinsten tanggbana gewöhnlich nur von einem einzigen Gehöft verehrt werden, kann sich jedoch durch fortschreitende Segmentierung der Gehöft-Lineage die Zahl der opfernden Gehöfte allmählich vergrößern. Zu Asik Yeri (Badomsa) gehört ein Fels- tanggbain, das der Ahne Ayarik vor 6 Generationen erworben hat. Die Nachkommen Ayariks wohnen inzwischen in 6 (vor einigen Jahren noch 10) Gehöften, sodass eigentlich eine rege Opfertätigkeit zu erwarten wäre. In der Praxis finden kaum Opfer statt, da man annimmt, dass der Ahne Ayarik dem tanggbain von seinen Opfergaben abgibt. Auch andere rituelle Tätigkeiten hat mein etwa 40jähriger Helfer Danlardy aus Asik Yeri noch nie am tanggbain erlebt. Die Nachkommen Ayariks empfinden nur das teng-tanggbain Pung Muning für alle entsprechenden Rituale und Opfer als zuständig. Obwohl der Ayarik-Fels mitunter als Kind (biik) von Pung Muning bezeichnet wird, muss der Erdherr (von Pung Muning) vor Opfern nicht informiert werden oder zu diesen seine Zustimmung geben.

Eine stärkere Eigenständigkeit finden wir bei dem Baobab-tanggbain von Atampoi-Dogdem in Wiaga-Kubelinsa, dem zur Zeit 14 Gehöfte opfern. Awenzie, die Opferer und Offiziant, erklärte mir gegenüber, dass er kein teng-nyono und sein tanggbain kein teng-tanggbain sei. Obwohl ein Stein von Pung Muning in einer Astgabel vor seinem Gehöft steht, opfern die 14 Gehöfte doch nur dem Baobab tanggbain. Awenzie nimmt sogar schon einige Funktionen wahr, die eigentlich eher einem Erdherrn zustehen. Er erteilt die Genehmigung zu Bestattungen und Totenfeiern, schlichtet Streitfälle und opfert dem tanggbain bei ausbleibendem Regen.

Eine noch größere Bedeutung und Selbständigkeit haben die tanggbana in der Schmiede-Sektion Wiaga-Chiok erworben4. Obwohl es auch hier keine eigenen Erdherren gibt, kann sogar das teng-nyuka (Erdtrink-) Ordal (s.u.) durchgeführt werden. Stärkere Bindungen zu Erdschreinen der landbesitzenden Sektion Wabilinsa scheinen nicht zu bestehen.

Es muss reine Spekulation bleiben, wenn man annimmt, dass auch die Opferer von bedeutenden tanggbana ohne teng-Qualifikation in der Zukunft einmal Erdherrn werden. Hierfür spricht jedoch, dass erst an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Wiaga eingewanderte Gruppen (Chantiinsa, Kpalinsa und Chandonsa) schon das Erdherrenamt besitzen.

Wenn hier aufgezeigt wurde, dass es innerhalb des Ritualbereichs eines teng-tanggbain verschieden große Erdheiligtümer gibt, die auch mit einer unterschiedlich großen Autorität und Macht ihrer Opferer einhergehen, so liegt doch nach meiner Wertung keine echte hierarchische Ordnung im Sinne eines Systems mit stufenmäßig aufgebauter Rangfolge vor. Zwar werden die kleineren tanggbana oft als Kinder (bisa) des jeweiligen teng-tanggbain bezeichnet, jedoch fällt andererseits ihre starke rituelle Isolierung gegenüber dem zentralen Erdheiligtum auf. Dem teng-nyono ist die Anzahl der kleinen tanggbana in seinem Sprengel oftmals gar nicht bekannt. Ein Fremder kann den kleineren tanggbana nur opfern, wenn er auf dem Land des anzestralen Eigentümer dieses tanggbain gesiedelt hat.

 

Fortsetzung: Ablauf eines tanggbain-Opfers


Endnoten

 

1Die Tallensi sind eine mit den Bulsa kulturell und sprachlich verwandte Gruppe in Nordghana. Das Tongo-Heiligtum wird von den Bulsa allgemein als Erdschrein, von den Tallensi als Ahnenschrein angesehen (mündliche Information Volker Riehl).

 

2Eine solche Zusammenlegung verschiedener Opfer-Intentionen ist bei Personengruppen aus dem gleichen Gehöft oder auch nahe verwandten Nachbargehöften möglich, seltener jedoch für Gruppen aus verschiedenen Sektionen (z.B. Badomsa und Kubelinsa).

 

3Bei Schott finden sich weitere Beispiele für Personifizierungen von tanggbana, z.B. 1973/74: 304.

 

4Über den Erwerb eines tanggbain durch die Sandema Schmiedesektion Choabisa vgl. Schott 1983:316f.