Zusammenfassung und Ausblick

 

Die detaillierten Ausführungen zum Erdkult der Bulsa mögen gezeigt haben, dass dieser Bereich in ein Netzwerk religiöser Einrichtungen eingebunden ist und selbst eine Grundlage des sozialen und individuellen Lebens bildet, dem sich auch heute noch keiner, der in der traditionellen Bulsa-Gesellschaft lebt, ganz entziehen kann.

Der religiöse Bereich der tengsa und tanggbana, der kleineren Erdheiligtümer und tengkuk-Schreine ist jedoch offen zu anderen traditionell-religiösen Ausdrucksformen und Kulten der Bulsa-Kultur. Die innige Verquickung von Ahnen- und Erdkult konnte andeutungsweise in diesem Aufsatz gezeigt werden. Im Bewusstsein des Bulsa-Individuums besteht wahrscheinlich kein Antagonismus zwischen der Verehrung von Erd-, Himmels-, Ahnen- und Medizinschreinen (auch der Regenschrein von Wiaga-Yisobsa ist ein Medizinschrein!). Die zum Teil starken Kompetenzüberschneidungen der verschiedenen übernatürlichen Kräfte werden durch Besuche beim Wahrsager (baano) geregelt. Dieser gibt nach emischer Auffassung nicht Ratschläge und Anweisungen aus seinem fast immer vorhandenen großen rituellen Wissen heraus, sondern er befragt durch das Medium seines Wahrsagegeistes (jadok) die göttlichen Wesen selbst und gibt nur deren Wünsche an die Klienten weiter. Ein Familienvater hat also nicht zu entscheiden, welcher übernatürlichen Macht er sein kleines Kind im segrika-Ritual darbringen soll. Das spirituelle Wesen selbst fordert das Kind für sich und setzt diese Forderung bei einer Missachtung mit schmerzlichen Sanktionen durch.

Wenn der Erdkult der Bulsa auch in einem gewissen Sinne Systemcharakter hat, so heißt das nicht, dass hier Teile einer komplexen Struktur oder eines umfangreichen Normen-Kodex lückenlos ineinander greifen. Die akzeptierten Ausnahmen und Abweichungen von traditionellen Verhaltensnormen, wie sie oben dargestellt wurden, bringen die in sich funktionierende Ordnung nicht zu Fall, sondern zeigen im Gegenteil, zu einer wie großen Flexibilität die überkommenen Traditionen fähig sind. Diese Anpassungsfähigkeit, auch an die Erfordernisse einer sich wandelnden modernen Zeit, findet wenigstens zum Teil ihre Erklärung darin, dass äußere rituelle Handlungen, so wichtig auch ihre genaue Einhaltung sein mag, nie Selbstzweck, sondern vor allem Ausdruck einer inneren Einstellung sind. Die Kleiderordnung am tanggbain kann zum Beispiel bei kühlem Wetter geändert werden, der Umfang eines Sühneopfers richtet sich zum Teil nach den wirtschaftlichen Möglichkeiten des schuldig gewordenen. Kleinere Kinder, denen noch keine boshafte Absicht zugemutet wird, sind oft ganz von rituellen Vorschriften befreit. Sie dürfen sogar schon von den gegrillten Teilen eines Tiers essen, bevor diese dem übernatürlichen Wesen geopfert werden.

Vor allem zeigt sich die Kompromissbereitschaft der Erdherren (im emischen Sinne der übernatürlichen Geistwesen), wenn die fortschreitende agrarische oder industrielle Ausbeutung des Landes Maßnahmen erzwingt, die eigentlich eine Verletzung der chthonischen Mächte und ein Eindringen in die Kompetenzen des Erdherrn darstellen. Vor mehreren Jahren erregte der Protest einer vereinigten Erdherrengruppe gegen geplante Steinbrüche in der Nähe von Bolgatanga (Nordghana) großes Aufsehen. Bei den Bulsa habe ich selbst die Erfahrung gemacht, dass die Erdherren - und hinter ihnen steht ein Großteil der Bevölkerung - unbedingt darauf bestehen, dass sie bei einschneidenden Veränderungen (Landvergabe an Fremde, moderne Bauten in der Nähe einer tanggbain-Opferstätte, Tiefbauten im Erdreich usw.) befragt werden und die entsprechenden Opfertiere zur Versöhnung ihres Erdheiligtums erhalten. Darüber hinaus sind sie wohl gewöhnlich zu großen Kompromissen bereit. Selbst die Anlage des Kadema-Goldbergwerks in den 90er Jahren hat meines Wissens zu keinem größeren Konflikt geführt. 2003 befragte ich den teng-nyono von Wiaga-Napulinsobsa (in Apok Yeri), wie er auf die Errichtung eines Goldbergwerks auf dem tanggbain-Land reagieren würde. Verdirbt ein Eindringen in das Innere der Erde das Land (kaasi tengka)? Er verneinte die letzte Frage, denn ein Bergwerk sei „development” (er gebrauchte hier das englische Wort). In einer Versammlung aller männlichen Hausbewohner und Nachbarn würden diese sicherlich ihr Einverständnis nach entsprechenden Opfern geben.

Im März 2001 zeigte mir der Erdherr Afelik (Wiaga-Longsa) einen Wassertank in Betonbauweise, den staatliche Behörden direkt an seinem Fluss-tanggbain Kunjiin errichtet hatten. Auf meine Frage, ob er mit diesem Bau einverstanden sei, antwortete er mir, dass seine Meinung nicht zähle. Das tanggbain selbst wollte diesen Tank, um so besser für die Gesundheit seiner menschlichen „Kinder” sorgen zu können. Zur gleichen Zeit hat eine fremde Kommission am Kunjiin-tanggbain geprüft, ob dieses vielleicht ein Anziehungspunkt für einen späteren Touristenstrom werden könne, denn hier am tanggbain versammeln sich in der Regenzeit - ähnlich wie am Krokodilteich von Paga - heilige Krokodile, deren fehlende Scheu und große Vertrautheit mit dem Menschen sicher für eine fotografierende Touristenschar attraktiv sein könnte. Auch gegen dieses Eindringen von Fremdlingen hat Afelik nichts einzuwenden, wenn das tanggbain seine Zustimmung gibt und jeweils durch vorherige Tieropfer (eine weitere Touristenattraktion!) informiert und eventuell versöhnt wird.

Der gewaltige wirtschaftliche und soziale Umbruch der letzten Jahre, von dem auch das Bulsaland erfasst wurde, muss also nicht unbedingt zu Konflikten mit traditionellen religiösen Kräften führen, wird aber sicherlich zum Wandel der Institutionen und der religiösen Einstellung der Kultgemeinden beitragen.

 

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