DIE KOMALAND-TERRAKOTTEN

 

BESCHREIBUNG, EINORDNUNG UND ANALYSE

 

Franz Kröger

 

Vorbemerkung: Weitere Dateien  zu den Komaland-Terrakotten befinden sich auf der website www.komaland.com

 

VORWORT

Der vorliegende Text ist das Produkt intensiver Beschäftigung mit den Komaland-Terrakotten seit 1981. Er hat im Laufe der Jahre ständige Umformungen, Korrekturen und Ergänzungen, vor allem durch Einbeziehung neuerer Veröffentlichungen, erfahren.

Als Arbeitsmaterial wurden nicht nur die von J. Anquandah, B. Kankpeyeng u.a. ausgegrabenen Artefakte berücksichtigt, sondern auch Terrakotten, die in Yikpabongo (Komaland) zum Beispiel bei Bauarbeiten gefunden und in den Gehöften aufbewahrt werden. Auch Ausstellungskataloge, Abbildungen in Publikationen und im Internet wurden berücksichtigt.

In den 1990er Jahren plante Frau Francine Maurer (Wadgassen) die Edition eines Bildbands über Komaland-Terrakotten, zu dem ich einen Textteil schreiben sollte. Das Projekt musste schließlich durch den frühen Tod von Frau Maurer aufgegeben werden. Auch ein weiterer geplanter Bildband, zu dem ich einen Text verfasste, der in kürzerer Form aus dem hier vorliegenden Aufsatz bestand, kam nicht zur Ausführung. Daher möchte ich in den folgenden Beschreibungen und Analysen meine etwa 35jährige Arbeit und ihre Ergebnisse, auch wenn sie mitunter noch einen hypothetischen Charakter haben, vor dem Vergessen bewahren.

Ich danke allen, die mir Einsicht in ihre Materialien und Daten über die Terrakotten gewährt haben oder mir bei der Erstellung des Textes durch Anregungen, Ergänzungen oder Korrekturen geholfen haben.

 

 

EINFÜHRUNG

 

Abb. 1  Yikpabongo 2008

Als im März 1985 der ghanaische Archäologe James Anquandah in Yikpabongo, Nordghana, die ersten Komaland-Terrakotten ans Tageslicht brachte, begann ein Prozess, der dazu führte, grundlegende Kapitel der westafrikanischen Kulturgeschichte neu zu überdenken und zu ergänzen.

Aus alter Zeit stammende anthropomorphe Terrakotten sind aus mehreren Regionen Westafrikas bekannt. Die im Norden Nigerias von Bernard Fagg entdeckten Nok-Figuren datieren aus der Zeit von 900 v. Chr. bis 500 n. Chr. Etwas näher an den Fundorten der Komaland-Kultur gelegen befinden sich die Fundstätten der alten Akan Terrakotten in Südghana (nach 1600) sowie die von Djenné und Bankoni im Niger-Binnendelta von Mali, deren Blütezeit vom 14. bis 16. Jahrhundert lag.

In diese bekannten westafrikanischen Stile reihen sich die Komaland-Figuren als eigenständige und hochwertige Kunstwerke ein. Die typischen Kennzeichen afrikanischer Figurenkunst zeigen sich bei ihnen besonders ausgeprägt. Weniger war den unbekannten Schöpfern an einer naturalistischen Darstellung gelegen, vielmehr stellten sie die wichtigen Partien besonders groß und detailliert dar, wobei sie andere Körperteile ganz ausließen oder an ungewohnter Stelle platzierten.

Obwohl die Komaland-Terrakotten zweifelsfrei als Kunstäußerungen anzusehen sind, wollten ihre Schöpfer sicherlich keine Kunstobjekte, sondern vielmehr gebrauchstüchtige Gegenstände für einen Kult kreieren. Von dem religiösen Umfeld, in dem diese Figuren entstanden, ihrer Bedeutung und Funktion, wissen wir zurzeit noch sehr wenig. Ihre Interpretation aus heutiger Sicht dreht sich unabwendbar im Kreis: Weil wir über ihren Zweck, ihre Anwendung und den übergeordneten kulturellen Zusammenhang nur spekulieren können, ist es schwierig, die Bedeutung dieser Objekte zu erschließen. Andererseits können die zum Teil rätselhaft erscheinenden Figuren uns nur schwache Hinweise auf die dazugehörige Kultur geben.

 

 

DIE ENTDECKUNG UND WISSENSCHAFTLICHE ERSCHLIESSUNG DER KOMALAND-TERRAKOTTEN

 

Ein erster rezenten Kontakt mit den Terrakotten fand wahrscheinlich in dem kleinen Koma-Dorf Yikpabongo im West Mamprussi District der Northern Region von Ghana statt. Das Dorf war bis in die 1950er Jahre noch unbewohnt (Kröger und Baluri 2010: 76). Als sich erste, aus dem Nachbardorf Barisi stammende Gruppen dort niederließen, entdeckten Männer beim Ausschachten einer Baugrube gebrannte Tonfiguren. Sie nannten diese Fundstücke Kronkronbali; kuring bedeutet in Konni, der Sprache der Koma, “alt sein”, balli (Pl.) “Kinder” (vgl. Kröger und Baluri 2010). Frei könnte man Kronkronbali als “Kinder einer alten Zeit” übersetzen. Die Koma hatten also sofort richtig erkannt, dass es Artefakte aus einer früheren Zeit und einer vergangenen Kultur waren.

Abb. 2  Die elders von Zamsa vor dem Erdheiligtum mit den Terrakotten Abb. 3 Die Zamsa-Terrakotten (1981)

 

Die wissenschaftliche Entdeckung und Erschließung fand erst mehrere Jahre später statt. Mein Beitrag hierzu bestand aus folgenden Aktivitäten: Im September 1978 entdeckte ich in Tandem-Zamsa im Gebiet der den Koma benachbarten Bulsa zwei Terrakotten in einem Steinhaufen, über die 1982 ein erster kurzer Bericht mit Abbildungen publiziert wurde. Im Mai 1984 ergab eine am Max-Planck-Institut für Kernphysik (Heidelberg) in Auftrag gegebene Datierung, dass eine Terrakotta-Figur aus Yikpabongo ein Alter von 405+135 Jahren hatte. Nach einem Besuch in Yikpabongo berichtete ich dem Department of Archaeology der University of Ghana in Legon am 16. Juli 1984 von den Funden und der Heidelberger Datierung. Zu diesem Zeitpunkt war dem Direktor des Departments, James Anquandah, noch nichts über diese Terrakotten bekannt.

Im März 1985 begannen unter Anquandahs Leitung die ersten Ausgrabungen in Yikpabongo. Vor allem aus finanziellen Gründen mussten schon nach einigen Jahren alle Grabungsarbeiten eingestellt werden. Erst 2006, nach etwa 20 Jahren Stillstand, konnte Benjamin Kankpeyeng, der neue Direktor des Department of Archaeology in Legon, die Forschungen in Yikpabongo und Umgebung wieder aufnehmen. Besonders in den letzten Jahren fand Kankpeyeng Unterstützung durch namhafte Kollegen, zum Beispiel seit 2010 durch Timothy Insoll von der University of Manchester und im Jahre 2011 durch Nathalie Swanepool von der University of South Africa in Pretoria.

 

 

WER WAREN DIE SCHÖPFER DER TERRAKOTTEN?

 

Anmerkung: Eine ausführlichere Erörterung dieses Themas in englischer Sprache findet sich in dem Aufsatz "The Creators of the Komaland Terracottas"  (2014) auf der Website Komaland.com

Die Hinterlassenschaften der alten Komaland-Kultur sind einmalig und lassen sich keiner der rezenten oder ausgestorbenen Kulturen Westafrikas zuordnen. Gleichwohl stellt sich die Frage nach den Schöpfern dieser alten Kultur: Gehörten die Künstler und Handwerker, die diese Figuren schufen, einer autochthonen Schicht an oder waren sie als Teil einer anderen Ethnie eingewandert? Da keinerlei schriftliche Zeugnisse über das Vorhandensein der alten Komaland-Kultur vorliegen, sind wir bei der Beantwortung dieser Fragen weitgehend auf Vergleiche mit der materiellen Kultur anderer Völker und Ethnien angewiesen.

Naheliegend wäre es, diese Zeugnisse einer unbekannten Kultur mit denen aus annähernd zeitgleichen Epochen zu vergleichen, zum Beispiel mit den alten Akan-Terrakotten Südghanas oder denen des Niger-Binnendeltas in Mali. Von den erstgenannten können die Komaland-Artefakte kaum wesentliche Impulse erhalten haben, da der Höhepunkt in der Produktion der Akan-Figuren zeitlich nach dem der Komaland-Terrakotten liegt.

Mehrere Eigenschaften treten jedoch an den Komaland-Figuren und auch an denen des Niger-Binnendeltas in ähnlicher Form auf: der weit geöffnete Mund, der Oberarmdolch, eine quadratische Schläfentatauierung, eine rautenförmige Bauchtatauierung und eine oder zwei (Opfer-) Schalen, die vor einigen weiblichen Figuren platziert sind (Abb. 21). Einige markante Figurentypen und Merkmale der Komaland-Kultur treten im Binnendelta aber nicht auf. Es sind dies zum Beispiel die Steckfiguren mit einem zapfenförmigen Unterteil, vor allem aber die enorme Vielfalt in der Ausgestaltung des Janusmotivs. Beide Kulturen haben vermutlich selbständig und unabhängig die wohl auf religiösen Vorstellungen beruhenden adäquaten Ausdrucksmittel gefunden. Eine gewisse gegenseitige Beeinflussung ist jedoch nicht auszuschließen, zumal allgemein angenommen wird, dass die Siedlungen der Komaland-Kultur durch Nord-Süd-Routen mit dem Karawanenhandel in der Sahara verbunden waren (Anquandah und van Ham 1985: 46; Davis 1988: 10; Zakari 2010: 15).

Betrachtet man die Ethnien, auf deren Areal man die Terrakotten gefunden hat, so fallen die heutigen Koma als mögliche Nachfahren der Komaland-Kultur aus, da sie erst Ende des 19. Jahrhunderts in dieses Gebiet eingewandert sind. Ihre östlichen Nachbarn, die Bulsa, auf deren Gebiet auch subrezente Terrakotten gefunden wurden, könnten als Träger der alten Kultur schon eher in Frage kommen. Viele der an den Terrakotten dargestellten Einzelelemente sind in der heutigen Bulsa-Kultur wiederzufinden, zum Beispiel eiserne Halbmond-Anhänger, der Kalebassenhelm, Kaurischnecken als Schmuckstücke, das auf die Hüftschnur aufgereihte Doppelspiralen-Amulett sowie verschiedene Typen von Arm- und Beinringen. Konkretere Hinweise für die Zugehörigkeit zu rezenten Ethnien geben die von Anquandah ausgegrabenen Metallartefakte, die der Beschreibung nach weitgehend mit den Entsprechungen bei den Bulsa übereinstimmen. Gegen die von Anquandah (1998) vertretene Hypothese einer Bulsa-Urheberschaft ließe sich sagen, dass die erwähnten Kleidungs- und Schmuckstücke sowie die Amulettformen auch von Mitgliedern anderer Ethnien Nordghanas getragen werden.

Der am häufigsten vorkommende Komaland-Figurentyp besteht aus Steckfiguren mit einem konischen Hals oder Körper, der es ermöglicht, diese Figuren in den Erdboden oder in einen Lehmschrein zu stecken. Sucht man nach ähnlichen Erscheinungen in der Nachbarschaft der Ausgrabungsgebiete, so geraten die Steckfiguren der Lobi von Burkina Faso ins Blickfeld, die allerdings nicht aus Ton, sondern aus Holz gefertigt sind. Wiederum kommen mehrere andere westafrikanische Kulturelemente sowohl bei den Lobi als auch an den Komaland-Terrakotten vor, zum Beispiel Kalebassenhelme, Mondanhänger, Beinmanschetten und ein scheibenförmiger Brustschmuck. Stichhaltiger für unsere Argumentation ist ein Beinamulett der Komaland-Figuren, das wohl nur bei den Lobi und Gan getragen wird und später im Zusammenhang mit den Gan beschrieben werden soll. Über die Geschichte der Lobi von Burkina Faso ist uns bekannt, dass sie in alter Zeit im Nordwesten des heutigen Ghana lebten und Ende des 18. Jahrhunderts den Schwarzen Volta überschritten, um sich in ihrem jetzigen Siedlungsgebiet niederzulassen. Kankpeyeng und Nkumbaan glauben, dass starke kulturelle Analogien, vor allem in Hinsicht auf die Art und Lage der Schreine, zwischen der Komaland- und Lobi-Kultur von Nordwestghana bestehen (2008: 99 und 2009: 14-33).

 

 

DIE GAN ALS POTENTIELLE KULTURTRÄGER

 

Klaus Schneider, der Direktor des Rautenstrauch-Joest-Museums in Köln, machte mich darauf aufmerksam, dass die westlich von den Lobi lebenden Gan in ihrer materiellen Kultur den Lobi ähneln, ihr Migrationshintergrund eine Verbindung zur Komaland-Kultur aber viel wahrscheinlicher macht. Die heutigen Gan, eine ethnische Gruppe von etwa 6000 Mitgliedern, leben im Südwesten der Republik Burkina Faso in der Provinz Poni. Opiré ist seit etwa 400 bis 500 Jahren die Hauptstadt des Gan-Königreiches. In den Werken von Madelaine Père (2004) und Daniela Bognolo (2010) steht uns ein reichhaltiges Datenmaterial zur Verfügung, vor allem über die Gesellschaft, Geschichte, Religion und Kunst der Gan.

 

Die Terrakotten

Abb. 4-6  Links: Beinamulett der Lobi nach Fisher (1984:129)

Mitte und rechts: Komaland Beinamulette

Eine häufig dargestellte Form von Brustanhängern an den Komaland-Figuren zeigt ein ring- oder scheibenförmiges Schmuckstück, häufig mit einer Betonung des Kreismittelpunktes durch einen kleinen, erhabenen Aufsatz (Tafel/Plate V, 12 und 14). Diese entsprechen weitgehend den aus Gelbmetall gefertigten Brustanhängern der Gan, wie wir sie von veröffentlichten Fotos kennen.

Von großer Beweiskraft ist das oben für die Lobi erwähnte Beinamulett (Abb. 4-6), das nach meiner Kenntnis nur bei den Lobi, den Gan und den Komaland-Terrakotten vorkommt. Es besteht aus einem etwa 30 Zentimeter langen, wellenförmigen oder geraden Band aus Eisen oder Gelbmetall und wird mit zwei Kordeln oder Ähnlichem unterhalb des Knies und am Fußgelenk befestigt. Nach Bognolo (2010: 110) ist es ein Amulett, das vor einer durch ein übernatürliches Wesen verursachten Guineawurm-Infektion schützt.

Die oben für die Lobi erwähnte Steckfigur mit konischem Unterteil findet sich auch bei den Gan-Terrakotten, und hier ebenfalls mit einer schalenförmig ausgehöhlten Schädeldecke, in deren Zentrum sich fast immer, wie Père es ausdrückt, eine kleine Zunge (languette) befindet (Père 2004: 205).

Von Gan-Informanten erhielt Père (2004: 202) eine Erklärung für diese “ausgehöhlten Schädel”: Geister (esprits) besäßen ein immenses Wissen über alle Dinge, seien aber wegen ihrer Unfähigkeit zu sprechen nicht in der Lage, dieses an die Menschen weiter zu geben. Sie fänden einen Vermittler in einem von Père «petit genie» genannten Wesen, das sich bestimmten, in einen Kult initiierten Menschen mitteilen könne. Nachdem die Geister und petit genies ihr Wissen an die Menschen abgegeben hätten, verlören sie dieses vollständig und würden daher mit einer ausgehöhlten Schädeldecke dargestellt.

Anthropomorphe Janusfiguren – sowohl im Sinne von Figuren mit einem Kopf und zwei oder mehreren Gesichtern als auch in der polykephalen Ausführung mit einem Rumpf und mehreren Köpfen – kommen in Westafrika bei mehreren Ethnien vor, zum Beispiel bei den Lobi, Dogon, Ibo, Igbo, Ikoi/Ekoi, Yoruba, Idoma, Aschanti und den alten Nok-Terrakotten. Auch die Gan stellen anthropomorphe, mehrköpfige Figuren her, die den entsprechenden Komaland-Typen in vielem ähnlich sind. Zwar haben die Janusdarstellungen bei den Gan nicht eine so große Variationsbreite erreicht wie im Komaland, das eine Fülle spielerisch wirkender Erfindungen von immer neuen janiformen Kombinationen hervorgebracht hat. Diese beeindruckenden Komaland-Kunstschöpfungen finden bei den Gan eine ebenbürtige Entsprechung, allerdings nicht in anthropomorphen, sondern in zoomorphen Formen, genauer gesagt in der Vervielfältigung und Kombination von Pythonköpfen. Schlangen mit zwei, drei, fünf und sogar vierzehn Köpfen in zirkulärer Anordnung gehören wohl zu den beeindruckendsten Kunstschöpfungen der Gan (Abb. 11).

Abb. 7-10  Links: Bronze-Schlangenköpfe der Gan

Rest: Komaland-Janusfiguren

Bei bestimmten Typen der anthropomorphen Janusfiguren der Komaland-Kultur scheint die dreieckige Form des Schlangenkopfes nicht ganz aufgegeben worden zu sein (Abb. 8-10), nur schwerlich ließe sich sonst diese Kopfform der Janusfiguren aus dem Komaland erklären, bei denen weder ein Ansatz von Haaren noch eine Kopfbedeckung zu erkennen ist.

Meisterwerke der Komaland-Künstler in der Ausgestaltung des Janusmotivs sind die janiformen Keramikscheiben. Sie finden in den scheibenförmigen Gelbgussarbeiten der Gan eine auffallende Entsprechung. Während die Höchstzahl der mir bekannten Gesichter in einer Keramikscheibe bei neun liegt, findet sich bei Durieu (2005: 44) die Abbildung einer Gelbgussarbeit der Gan mit dreizehn und bei Bognolo (2010: 136) mit vierzehn kreisförmig angeordneten Schlangenköpfen.

Abb. 11-12  Links: Gelbgussarbeit der Gan

Rechts: Terrakotta-Scheibe der Komaland-Kultur

Ein Vergleich dieser Kunstobjekte der beiden Kulturen zeigt eine starke Anthropomorphisierung in den Komaland-Scheiben, auch ist das Ausmaß in der Abstrahierung und Stilisierung bei ihnen deutlich größer. Auf dem ersten Blick mag ein Betrachter einer neungesichtigen Keramikscheibe ihren janiformen Charakter gar nicht erkennen (Abb. 12), denn die neun Münder haben zusammen nur neun Augen: Jedes Gesicht vervollständigt sich jedoch durch die Augen, Nasen- und Ohrlöcher der beiden Nachbargesichter.

 

Schädelkult

Die aufschlussreichste Parallele zwischen den beiden Kulturen zeigt sich wohl nicht in den Kunstobjekten, sondern in einem wesentlichen Element ihres Totenkults. Kankpeyeng und seine Mitarbeiter entdeckten 2007 und 2010 bei Ausgrabungen in Yikpabongo vom Rumpf abgetrennte Schädel. Weitere Knochen fehlten entweder ganz (Kankpeyeng und Nkumbaan 2008: 97 und 100) oder sie lagen zusammen mit Kiefer und Zähnen neben dem Schädel (Kankpeyeng et al. 2011: 210). Eine Radiokarbon-Datierung ergab für den zweiten Fund ein Alter von 1010 bis 1170 Jahren.

Für unsere Argumentation ist es wichtig, dass auch die Gan diesen Totenbrauch praktizierten: Zu Bestattungszwecken wurden sowohl die Köpfe von verstorbenen Königen als auch die von Albinos vom Rumpf getrennt. Die Schädel von Albinos dienten den Königen als eine Art Kissen (coussin) oder Nackenstütze (Père 2004: 46). Außerdem sollte ein Teil der Lebenskraft (fluide vital) der Getöteten dem verstorbenen König zugute kommen.

Der Schädelkult spielte auch eine Rolle in den Beziehungen der Gan zu anderen Ethnien und Staaten. Zwischen den Kʋlãgo-Lorhõ und Gan gab es einen bilateralen Vertrag, demzufolge das Abtrennen des Kopfes von einem Mitglied der jeweils anderen Ethnie für Opfer oder Bestattungsriten verboten war (Père 2004: 48). Die Möglichkeit des Austausches von Schädeln zwischen Nachbarethnien, die es nach Père zum Beispiel zwischen den Brong und den Ashanti gegeben hat, könnte für die wissenschaftliche Auswertung von archäologisch ausgegrabenen Schädeln bedeutsam sein. Es besteht die Möglichkeit, dass die Schädel zum Beispiel älter sind als die umliegende Siedlung, und DNA-Analysen würden keine biologischen Informationen über die Bewohner der Siedlung abgeben. Selbst wenn die in Yikpabongo gefundenen Schädel von Personen der eigenen Ethnie stammten, könnten diese menschlichen Überreste älter sein als das Grab, in dem sie gefunden wurden. Père berichtet zum Beispiel, dass die Gan bei ihrer Reise aus dem Süden Ghanas (siehe unten) bestimmte “Symbole” mit sich führten (Père 2004: 246); und Bognolo (2010: 71) deutet diese Symbole als Ahnenschädel.

 

Geschichte

Abb. 13  Migrationsgeschichte der Gan

(nach Père 2004 und Bognolo 2010)

Die bisher geschilderten Analogien zwischen den Gan und der Komaland-Kultur wären ohne Belang, wenn nicht wenigstens die Möglichkeit einer früheren Ansässigkeit der Gan im Siedlungsgebiet der Komaland-Kultur bestanden hätte. Für die Migrationen der Gan besitzen wir zurzeit nur mündliche Überlieferungen, die bis in die Zeit zurückreichen, als sie im Süden des heutigen Ghanas lebten. Père (2004: 42) erhielt die Auskunft, dass sie ursprünglich in Mãkpono (dem heutigen Kpone?), 200 Kilometer östlich von Accra, lebten. Nach einem Streit zwischen ihrem König und dem Oberhaupt des königlichen Matriclans verließen die Anhänger des letzteren ihren Wohnsitz, um in den Norden des heutigen Ghana zu ziehen. Hier lebten sie in unterschiedlich langen Zeiträumen in verschiedenen Städten oder Dörfern. Von ihrem Siedlungsgebiet Larabanga (bei Damango) zogen sie nach Wa, das sie nach etwa 20 Jahren verließen, um sich für fünf Jahre in Techiman niederzulassen. Hier und in ihrem nächsten Wohnort Bole blieben einige Gruppen ihrer Ethnie zurück, die anderen zogen wieder nach Wa. Père (S. 48) erhielt auch Informationen, dass die Gan eine Zeitlang mit den Mossi zusammen in Gambaga lebten und möglicherweise sogar der Name Gambaga mit dem Ethnonym Gan verwandt ist. Nach einem bewaffneten Konflikt zogen die Mossi nach Norden, die Gan nach Süden.

Eine größere Übereinstimmung zwischen den verschiedenen Migrationsberichten besteht wohl nur bezüglich der letzten Wanderungen der Gan in den Südwesten des heutigen Burkina Faso (Abb. 13: Karte). Père zufolge waren die Gan auf ihren Reisen immer auf der Suche nach Goldlagern (S. 42). Für einen Aufenthalt der Gan im Komaland spricht, dass sich hier heute drei Abbaugebiete für Gold befinden. Obwohl man bei den Ausgrabungen in Yikpabongo bisher noch keine Objekte aus Gold gefunden hat, berichtet Anquandah (1986: 12) zumindest von einer Terrakotta-Figur, die in Goldstaub eingebettet war.

Solange uns keine absoluten Daten, etwa anhand von Radiokarbon (C14)- oder Thermolumineszenz (TL)-Analysen vorliegen, bleibt eine zuverlässige Chronologie der oben aufgeführten Migrationen ein Desideratum. Nach Delafosse (1912, I: 317) verließen die Gan schon im 13. Jahrhundert die Gegend um Bondoukou (vgl. Père 2004: 37) und erreichten 1290 Gaoua, das heute eine Stadt der Lobi ist (vgl. Durieu 2005: 11). Nach Paley und Hébert (1962: 444-448) ließen sich die Gan im 16. Jahrhundert im heutigen Burkina Faso nieder. Père (2004:45) versucht aus ihren genealogischen Listen des Gan-Königshauses durch eine Zuordnung von 30 Jahren pro Generation auf absolute Daten zu schließen. Sie errechnet, dass die Lobi Ende des 17. Jahrhunderts und die königliche Familie der Gan etwa 200 Jahre vorher, das heißt Ende des 15. Jahrhunderts, das Gebiet ihrer heutigen Wohnsitze erreichten. Über die Zeiten, wann die Gan-Gruppe einzelne Zwischenetappen erreicht hat, kann heute nur spekuliert werden, jedoch wäre bei der unsicheren Datenlage für die Aufenthaltsorte der Gan ihre Urheberschaft für die Komaland-Kultur aus chronologischen Gründen auch dann nicht auszuschließen, wenn man die Entstehungszeit der Terrakotten schon für eine Zeit vor 1200 ansetzt (s. Datierungen).

Viele der hier aufgezeichneten Übereinstimmungen von kulturellen Merkmalen bei den heutigen Gan und den Schöpfern der Komaland-Terrakotten lassen auf enge Kontakte zwischen den beiden Kulturen schließen. Ein eindeutiger Beweis, dass die Vorfahren der Gan die Schöpfer der Terrakotten waren, konnte jedoch noch nicht erbracht werden.

Verschiedenste kulturelle Einflüsse auf die Komaland-Kultur mögen zu allen Zeiten bestanden haben: durch die Kulturen des Niger-Binnendeltas, mit der sie wohl durch Handelsrouten verbunden waren, durch die Bulsa, deren Siedlungsgebiet zum Teil das Areal der Komaland-Kultur einschloss, oder durch die Lobi von Burkina Faso. In Bezug auf die physischen Schöpfer der Komaland-Kultur ist zum heutigen Zeitpunkt wegen auffallender Übereinstimmungen (zum Beispiel von Bestattungen mit abgetrennten Schädeln) wohl am wahrscheinlichsten, dass dieses die Gan waren.

 

 

DATIERUNGEN

 

Die ersten Thermolumineszenz-Datierungen ergaben für die Komaland Terrakotten ein Alter, das zwischen 1200 und 1800 n. Chr. lag. In neuerer Zeit wurden meines Wissens durch Kankpeyeng elf weitere Datierungen vorgenommen: vier TL-Analysen und sieben nach der C14-Methode anhand von Holzkohleresten. Sie weisen mit ihrem relativ kleinen Streuungswert nicht nur genauere Daten auf, sondern belegen auch, dass der Beginn der Komaland-Kultur nicht, wie vorher angenommen, um 1200 lag, sondern einige Jahrhunderte früher zwischen 500 und 1100 (Kankpeyeng et al.: 2011: 209). Die Konsequenzen, die sich aus dieser neuen chronologischen Einordnung in die westafrikanische Geschichte ergeben, sind enorm. Nach Kankpeyeng et al. (2011: 209) liegen nun die Anfänge der Komaland-Kultur noch vor dem Beginn des Transsahara-Handels, und sie fallen in etwa mit dem Beginn der großen Stadtkulturen Jenne-Jeno, Gao und Koumbi Saleh im westlichen Sudan zusammen.

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