Tengsa und Ahnenschreine: Gleichsetzung und Vererbung

 

In den siebziger Jahren bat ich einen Helfer, mir eine Liste aller tanggbana des Bulsa-Dorfes Wiaga anzufertigen. Zu meiner Überraschung erschienen auch einige Ahnenschreine (wen-bogluta) von Sektionsgründern in der Aufstellung, und mein Informant blieb bei seiner Aussage, dass diese Schreine auch gleichzeitig tanggbana seien. Bei meinen eigenen Erkundigungen nach den Erdheiligtümern Wiagas bezeichnete der Erdherr in einigen Fällen einen großen Ahnenschrein vor dem Gehöft als sein teng. Erst auf Nachfragen gab er zu, dass dieses teng auch einen Außenschrein in Form einer Naturerscheinung hat (Hain, Fels, Baum usw.). Der Ahne, der als erster ein tanggbain / teng für eine Linie erworben hat, gilt nicht nur als dessen Besitzer (nyono), sondern es kommt mitunter fast zu einer Gleichsetzung der beiden Geistwesen1.

Hierzu passt die Tatsache, dass bei den alljährlichen Ernteopfern zwar alle Schreine des Gehöfts eine Opfergabe der ersten Hirse erhalten sollen, kleinere tanggbana jedoch oft ausgelassen werden, da ihnen der Ahne, der sie erworben hat und als ihr Besitzer gilt, von seinen Opfergaben abgibt.

Das Verhältnis zwischen Erdschreinen und Ahnenschreinen zeigt sich auch deutlich, wenn nach dem Tod eines Erdherrn sein Nachfolger Amt und Erdschrein übernimmt. An anderer Stelle (Kröger 1982 und 2003) wurde aufgezeigt, dass sich die Vererbung von Ahnenschreinen und mit diesen die von dem betreffenden Ahnen erworbenen anderen Schreine sowie Vieh und Land bei den Bulsa nach dem Prinzip der Generationen-Seniorität vollzieht. Dieses bedeutet, dass beim Tod des Schrein-, Land- und Viehbesitzers unter den lebenden, erbberechtigten Nachkommen stets der älteste Mann der ältesten Generation die Erbschaft antritt2. Das Prinzip gilt gewöhnlich nicht nur für die eigene Familie oder das einzelne Gehöft, sondern auch für die Patrilineage der ganzen Sektion. Besitzt etwa ein Gehöftherr den Schrein eines Ahnen, der vor zehn Generationen gelebt hat, so ist es sehr unwahrscheinlich, dass beim Tod dieses Gehöftherrn der älteste Nachkomme des Ahnen aus der ältesten Generation auch im Gehöft des gerade Verstorbenen lebt. Der Ahnenschrein und mit ihm das Land und die Nachkommen des von ihm erworbenen Viehs gehen also in den Besitz des Erben über. Auch alle seine Ämter, z.B. das des Vorstehers (kpagi) eines Lineage-Segments, werden auf seinen Erben bzw. Nachfolger übertragen, sodass im Laufe der Zeit bedeutende Schreine, große Ländereien, Vieh, in früherer Zeit auch Sklaven sowie Ämter potentiell durch alle Gehöfte der Sektion rotieren.

Ein großes Erdheiligtum und mit ihm das Amt des Erdherrn sind in gleicher Weise an den gewöhnlich sehr alten Schrein des Ahnen gebunden, der das tanggbain erworben hat. Das Besitztum eines Erdschreins und das Amt des teng-nyono rotieren also theoretisch durch alle Gehöfte (z.B.) einer Sektion, die Nachkommen des tanggbain-Erwerbers sind . In der Praxis allerdings scheint sich diese Rotation - zumindest in Wiaga - mitunter auf ein kleineres Lineage-Segment der Nachkommenschaft zu beschränken (s. Kröger 1982: 55-57). Hier wären allerdings noch weitere Nachforschungen in anderen Bulsa-Dörfern zur Bestätigung notwendig. Nach Schott (1977:157f.) gilt das Gesetz der Seniorität in einigen Ortschaften für eine Einheit, die größer als eine Sektion ist:

In some villages his [the teng-nyono’s] office is not tied to a certain section, but the duty to offer sacrifices to the principal teng (‘earth-shrine’) passes from section to section according to where the eldest person (kpagi) of the most senior line of the village resides. This rule is observed, for example, in Fumbisi...

Da die Übertragung des Erdschreins erst nach Abhaltung der letzten Totenfeier (juka) stattfindet und bis zu jener Zeit einer der jüngsten Söhne des verstorbenen teng-nyono das Aufgabenfeld und den Titel eines Erdherrn stellvertretend für seinen Vater übernimmt, findet man recht häufig auch sehr junge, eigentlich nur stellvertretende Erdherren, zumal diese oft versuchen, die letzte Totenfeier zeitlich hinauszuschieben, um so recht lange im Genuss der Erdherrenschaft zu bleiben. Erreichen sie in diesem Amt nach Jahrzehnten ein hohes Alter, so rückt die Tatsache, dass sie nur stellvertretende Erdherren sind, in ihrer sozialen Umwelt immer mehr in Vergessenheit.

Bis zu seinem Tode im Jahre 2010 übte der über 80 Jahre alte Erdherr Anamogsi von Wiaga-Badomsa sein Amt stellvertretend für seinen 1973 verstorbenen Vater Anyenangdu aus. Nach Abhaltung dessen zweiten Totenfeier (juka) müsste er die Erdherrenschaft an Ansoateng, den Gehöftherrn eines Nachbargehöfts derselben (sub-) lineage, abgeben, da dessen verstorbener, aber noch nicht durch die Totenfeiern in den Ahnenstand versetzter Vater älter ist als Anamogsi. Hält Ansoateng allerdings auch diese Totenfeiern ab, so übernimmt der Vorsteher des Nachbargehöfts Atinang Yeri für seinen verstorbenen Vater die Amtswürde. Sollten schließlich alle drei Totenfeiern einen Abschluss gefunden haben, so hätte Anamogsi, falls er noch gelebt hätte, wieder das Amt des Erdherren übernehmen können, diesmal aber nicht für seinen verstorbenen Vater, sondern kraft seines eigenen hohen Lebensalters.

Die obigen Ausführungen scheinen im Widerspruch zu den Behauptungen von Rattray (1932: 402) über den Erdherrn der Bulsa zu stehen.

When the Tenyono died, and after the funeral custom, all the nu-soma [alte Männer, elders, F.K.] met and appointed a new Tenyono. The Tenyono’s family would be asked by these Elders whom they wished to succeed, and, although they already knew who the successor was to be, would tell the section-heads that the choice lay in their hands.

Es scheint sich hier jedoch nicht um eine echte Wahl, sondern, wie auch aus dem Schlusssatz hervorgeht (they knew already who the successor was to be), um eine formale Ernennung oder Bestätigung des durch die genealogische Position designierten Nachfolgers zu handeln.

Über eine Versammlung der elders beim Amtswechsel konnte ich keine Informationen einholen. Einsetzungsrituale beim Amtsantritt gibt es bei den Bulsa nach meinen Erkundigungen nicht. Pauline Akankyalabey (1984: 18) erfuhr jedoch von Mr. Leander Amoak, einem Lehrer und elder (kpagi) von Wiaga-Badomsa, dass dem neuen teng-nyono nach seiner Amtseinführung ein Stock (diok) überreicht wird. Eine ähnliche Information erhielt Schott (1977: 158) für Fumbisi. Mehrere Erdherren von Wiaga sagten mir jedoch, dass sie allein durch die letzte Totenfeier ihres Vorgängers Amtsnachfolger wurden.

Für die Ausübung der Erdherrenfunktion scheint eine gewisse geistige und körperliche „Gesundheit” Voraussetzung zu sein. Während nach Anamogsi auch Krüppel und Linkshänder das Amt des teng-nyono bekleiden dürfen, sind Blinde, Beschnittene und Geisteskranke ausgeschlossen. Tritt die Blindheit oder Geisteskrankheit jedoch nach der Amtsübernahme ein, so darf der Erdherr sein Amt behalten. Nach einer später durchgeführten Zirkumzision muss er es jedoch abgeben. Ein Christ oder Moslem kann nach Anamogsi nie Erdherr werden.

 

Fortsetzung: Landbesitz und tengkuk

 

Endnoten


1Eine ähnliche Gleichsetzung erlebte ich besonders deutlich bei dem Opfer an einen Medizinschrein im Gehöft Anyenangdu Yeri (Wiaga-Badomsa). Die Medizin war vor vielen Jahren von Afarima, einer aus Doninga eingeheirateten Frau, erworben worden. Beim Opfer redete der Offiziant die Medizin selbst mit Afarima an.


2Tengan (1989: 95) kommt für die Sisala zu einem ähnlichen Ergebnis: „...the office of the earth priest is lateral and then vertical. Hence, it passes from the senior to the junior brother and lacking any more members on the line of the brothers, to the eldest son”. - Aus dem ersten Satz des Zitats lässt sich, wenn auch nicht ganz eindeutig, schließen, dass sich die Nachfolge auf alle „male members” der „lineage” bezieht.