Tabus

 

Jedes Erdheiligtum fordert von den Bewohnern ihres Sprengels, vor allem wenn sie selbst durch irgendwelche vollzogene Riten oder Tätigkeiten besonders an den Erdschrein gebunden sind, die Einhaltung bestimmter Vorschriften und Verbote (kisita, Sing. kisuk). Diese reichen von Verhaltensweisen der Etikette über altüberlieferte Vorschriften und echte Tabus, deren Nichtachtung scharfe Sanktionen durch das tanggbain nach sich zieht, bis hin zu Taten, die das „Land verderben” (kaasi tengka), d.h. auch Einfluss auf das Leben der ganzen Gemeinschaft nehmen können (vgl. auch Schott 1981: 192f. und 1987: 63).

Als Beispiel für die beiden erstgenannten Arten von Vorschriften ist die Reihenfolge der Opferteilnehmer in dem Prozessionsgang vom Gehöft zum tanggbain zu nennen (s.o.). Auch ein Verstoß gegen die Kleiderordnung am tanggbain Pung Muning zieht gewöhnlich keine Strafen nach sich, wenn keine böse Absicht vorliegt.

Eine Nichtbeachtung der echten Tabus kann schwerwiegende Folgen bis hin zum Tode des Übertreters haben und leitet langwierige Versöhnungsriten mit der Bereitstellung von Opfergaben durch den Schuldigen oder seine Familie ein.

Auf die Befragung nach den Tabus und aus moralischen Gründen verwerflichen Verboten1, deren Übertretung das tanggbain innerhalb seines Einzugsbereich rigoros fahndet, gaben mir die 30 Erdherren Wiagas folgende Auskunft (Mehrfachnennungen waren möglich):

1. Diebstahl (13 Nennungen)

2. Hexerei und Schadenzauber (12)

3. ‘Ehebruch’ (kabong), vor allem Verkehr des Mannes mit der Ehefrau eines Klanangehörigen, oder die Heirat von Frauen, die schon vordem verheiratet waren (9)

4. Geschlechtsverkehr außerhalb des Gehöftes (6)

5. Totschlag, Mord, Blutvergießen in einer Streiterei (4)

6. Verfluchung eines Menschen (2)

7. Vergraben von Medizin in der Nähe des teng (1)

8. Schimpfen und Schreien während einer Opferhandlung - nicht nur an das tanggbain (1)

9. Gewehrschüsse, Böllerschüsse bei Totenfeiern (2)

10. Gebrauch von Fahrrädern, Motorrädern, Autos, Traktoren usw. innerhalb der eigenen Sektion (1)

11. Erdnussanbau (1)

12. Gebrauch von Mörsern nachts oder bei bewölktem Himmel (1)

13. Tragen von roter Kleidung (1)

14. Wellblechdächer und Zementhäuser (1)

15. Pflügen (1)

16. Fällen von Bäumen (1)

17. Trinken aus einer chari-Tonschale (1)

18. Töten eines Tiers auf Ackerland (verursacht eine Missernte für das Feld im folgenden Jahr) (1)

19. Teng-nyono darf keinen Nil-Waran (yuk) und kein Krokodil (ngauk) töten

20. Einige Erdherren nannten in diesem Zusammenhang auch das Erscheinen der Tallensi-Opfergruppen (3)


Die Beachtung der erstgenannten Tabus (1-5, mit Einschränkung auch 6-8) wird vielleicht auch in irgendeiner Form von den tanggbana gefordert, deren Erdherren sie nicht ausdrücklich als ein Tabu ihres Erdschreins bezeichnet haben, da die Ablehnung solcher Handlungen durch ihr tanggbain für sie eine Selbstverständlichkeit ist. Sie beziehen sich auf allgemeine ethische Werte der Bulsa, denen hier wohl nur durch eine Tabuisierung ein besonderer Nachdruck verliehen werden soll, da eine Nichtbeachtung das Funktionieren gesellschaftlicher Abläufe innerhalb der Kultgemeinde in Frage stellt.

Andere Tabus (9-19) beinhalten sonst wertneutrale Verhaltensweisen oder sogar wirtschaftlich wertvolle und profitable Tätigkeiten (Erdnussanbau, Pflugbau), verstoßen jedoch gegen die von den Ahnen übernommenen Traditionen. Ihre Beachtung kann, wie mir auch mehrere Bulsa versicherten, den sozialen und ökonomischen Fortschritt gefährden. Diese Gefahr besteht wohl vor allem für die Sektion Wiaga-Yisobsa-Kom. Sie liegt etwa 10 km vom Zentrum Wiagas entfernt und ist von diesem durch Buschland getrennt. Ihre Bewohner gehören einer autochthonen Bevölkerungsschicht an, d.h. sie sind keine Nachkommen des vor einigen Jahrhunderten aus dem Mamprussi-Land eingewanderten Urahnen Atuga. Von den oben aufgelisteten Tabus entfallen auf Kom:

Diebstahl (hat automatisch Tod zur Folge), Erscheinen von Tallensi-Opfergruppen, Hexerei, Gebrauch von Fahrrädern, Motorrädern, Autos und Traktoren (diese Tabu gilt auch für Fremde), Erdnussanbau, nächtlicher Gebrauch von Mörsern, Wellblechdächer, Verwendung von Zement, Pflügen, Böllerschüsse bei Totenfeiern

Das Verbot des Erdnussanbaus, der Errichtung moderner Behausungen und des Gebrauchs von Fahrrädern hat in neuerer Zeit zu Abwanderungen jüngerer Leute in das Zentrum Wiagas geführt. Der Erdherr und seine elders haben inzwischen auf diese Herausforderung reagiert und z.B. das Verbot von Fahrrädern auf das Gehöft des Erdherrn und der mit ihm näher verwandten Gehöfte eingeschränkt.

Gerade eine Untersuchung der Tabus von Erdschreinen haben stark zur Bewertung des Erdkultes durch Außenstehende beigetragen. Stärker noch als bei dem Himmelsgott (Naawen), den man ja oft mit dem christlichen und islamischen Gott gleichsetzt, wird den Erdgeistern eine große Willkür und Grausamkeit nachgesagt. So etwa, wenn ein kleines Versehen oder eine unbedeutende Übertretung eines Tabus mit dem Tode bestraft wird. Demgegenüber muss jedoch auch festgestellt werden, dass viele Forderungen und Verbote (z.B. Diebstahl, Blutvergießen im Kampf, Ehebruch) das Moralsystem der Anhänger stützen und damit auch zur Stabilisierung der Gesellschaft beitragen.

 

Fortsetzung: Tengsa und Ahnenschreine


Endnote

1Für einen Außenstehenden liegen Diebstahl, Mord und Ehebruch im Vergleich zum Tragen roter Kleidung auf einer ganz anderen, nämlich ethischen Ebene. In den Interviews war es kaum möglich, die verschiedenen Vergehen durch Kategoriesierung zu trennen. Die Erdherren brauchten für alle Verbote das gleiche Wort (kisuk).